Zum Titel
Der Roman „Bei aller Liebe“ von Jane Campbell wurde 2024 unter dem Titel “Interpretations of Love“ veröffentlicht. Die deutsche Ausgabe erschien ebenfalls 2024 im Kjona Verlag, aus dem Englischen übersetzt von Bettina Abarbanell.
Das Buch umfasst 221 Seiten und ist ein Hardcover ohne Schutzumschlag.
Zum Inhalt
In Vorbereitung auf die bevorstehende Hochzeit von Agnes Tochter plant nicht nur sie selbst, ein Geheimnis zu lüften, auch einige ihrer Gäste haben etwas auf dem Gewissen. Aus den Perspektiven von Malcolm, Joseph und Agnes erfahren wir, wie über eine Zeitspanne von 50 Jahren Alles mit Allem zusammenhängt.
Rezension
Nach „Kleine Kratzer“, dem Debüt von Jane Campbell aus dem letzten Jahr, war ich sehr gespannt auf den ersten Roman der 82-jährigen Psychotherapeutin. Ihre Kurzgeschichten zeugten von großer Menschenkenntnis und langjähriger Erfahrung, menschlichen Beziehungen und Verhaltensweisen auf den Grund zu gehen. Und so ging es mir auch hier wieder.
Ich muss zunächst sagen, „Bei aller Liebe“ ist kein Spannungsroman, dass sich eine Situation zuspitzt und es auf der Hochzeit zum großen Knall kommt wäre eine Erwartung, die so nicht erfüllt wird. Die Autorin erzählt in ruhigen, feinen Tönen, es ist kein Unterhaltungsroman. Dies lässt der Klappentext so ein bisschen vermuten, aber Jane Campbell nimmt den Leserinnen und Lesern das Einfühlen nicht ab, ganz im Gegenteil, man wird von ihren Geschichten auch hier wieder gefordert. Die Perpektivwechsel haben mich als Leserin genötigt, Position zu beziehen und das finde ich in diesem Roman einfach großartig gelungen.
Den Anfang macht Malcolm, der Onkel von Agnes, der eine Schuld mit sich herumträgt. Er hat seiner Nichte nie von einem Brief erzählt, den er nicht nur nicht weitergeleitet hat, zudem hat er ihn auch noch geöffnet und dessen Inhalt für sich behalten. Seine widerstreitenden Gefühle bekomme ich als Leserin hautnah mit und komme nicht umhin, mir ein Urteil zu bilden, welches auch immer.
Dann ist da Joseph, dem Agnes nicht mehr aus dem Kopf geht, seit sie bei ihm in Therapie war. Sie wuchs ohne leibliche Eltern auf und es gab eine lange Phase der Orientierungslosigkeit, wie sie ohne diesen wichtigen Teil ihrer Vergangenheit ihre Zukunft gestalten kann. Joseph ist von der jungen Frau berührt, fühlt eine starke Anziehungskraft. Er verliebt sich vermeintlich in die viel jüngere Frau, zeigt ihr seine Gefühle jedoch nicht. All die Jahre bis zu ihrer Hochzeit bleiben sie in Kontakt.
Der geschickte Schachzug, dass alle drei Hauptfiguren Wissenschaftler sind und Agnes selbst in Therapie war, ermöglicht Jane Campbell, das Thema Elternlosigkeit und verwandtschaftliche Liebe wie nebenbei sehr differenziert in ihrer Geschichte zu analysieren. Die verschiedenen Herangehensweisen aus Theologie, Philosophie und Psychologie machen den Roman vielschichtig und regen zum Nachdenken an. Und auch hier wieder spielen die Sichtweisen von Menschen im letzten Lebensabschnitt eine große Rolle.
In meinen Augen war ein Thema auch die Sehnsucht, die uns bei der Partnersuche antreibt, darum, was wir in einer anderen Person zu finden hoffen. Und auch, welchen Einfluss die Bindung zu den Eltern und die Situation, wie man aufgewachsen ist auf spätere Beziehungen hat.
Die Autorin driftet nie in Kitsch ab, verliert sich nicht in Fachsimpelei, das Lesen des Buches bringt einen nah an die Hauptfiguren und deren Beweggründe. Ob wir diese nachvollziehen können ist nichts, was die Autorin beabsichtigt, hatte ich den Eindruck, sie möchte einen nicht für eine der Figuren einnehmen, sie beobachtet lediglich. Ob das Ende realistisch ist? Wahrscheinlich nicht, aber es ist meines Erachtens das beste Ende, um Leserinnen und Leser unvoreingenommen das Buch Revue passieren zu lassen.
Was bei mir im Nachhinein, mehr als Gefühl, hängen geblieben ist, ist eine Empörung über die Ignoranz von Malcolm und Joseph, die bis zuletzt glauben am besten zu wissen, was für Agnes das Beste war und ist, und in ihrer Ich-Bezogenheit jedoch vor allem an sich selbst denken. Ihre Eifersucht aufeinander, nicht der wichtigste Mann in ihrem Leben sein zu können oder zu bleiben, hat nichts mit Liebe zu tun, sondern ist ein Besitzdenken und eine Selbstsucht, die Jane Campbell – wie so Vieles – einmalig herausgearbeitet hat.
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