Zum Titel
Die Romanreihe „Die Leute vom Hellemyr“ von Amalie Skram setzt sich aus vier Bänden zusammen. Diese entstanden unter dem Originaltitel „Hellemyrsfolket“ zwischen 1887 (Veröffentlichung des ersten Bandes) und 1895 (Veröffentlichung des letzten Bandes 1898). Kurz darauf um das Jahr 1900 wurden drei Bände ins Deutsche übersetzt. 2022 erschien die hier besprochene Neuübersetzung aller vier Bücher als Gesamtwerk im Guggolz Verlag, insgesamt 1190 Seiten umfassend und wurde unter Einsatz dreier namhafter Übersetzerinnen den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern erneut zugänglich gemacht.
Band 1 - Sjur Gabriel
Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt
133 Seiten
Band 2 - Zwei Freunde
Aus dem Norwegischen von Nora Pröfrock
195 Seiten
Band 3 - S. G. Myre
Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt
397 Seiten
Band 4 - Die nächste Generation
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
465 Seiten
Zum Inhalt
Beginnend mit dem Ehepaar Oline und Sjur Gabriel begleiten wir über 4 Generationen eine Familie im norwegischen Bergen Ende des 19. Jahrhunderts. Gesellschaftlich sowieso schon schlecht gestellt müssen die Nachkommen der Familie Hellemyr auch noch mit einer vererbten Schande und allerhand Schicksalsschlägen zurechtkommen. Ist man seines eigenen Glückes Schmied? Oder bleibt man, was man ist? Kann man vom vorgezeichneten Weg abweichen und sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen? Ist man etwa nicht demütig und gottesfürchtig genug? Die Hauptrolle spielt zum großen Teil Sievert, der Enkel von Oline und Sjur, die Geschichte endet wiederum mit seinem ersten Enkelkind.
Rezension
Ich wundere mich immer wieder, wie solche Schätze mich finden, aber ich bin bereits eine Weile vorm Erscheinungstermin irgendwo auf den Vierteiler aus Norwegen aufmerksam geworden. Der Titel war wohl ausschlaggebend und, dass es aus dem Guggolz Verlag kommt, der mit einer hohe Qualität - innen und außen – immer große Lesefreude verspricht. Auf jeden Fall ließ mich die Ankündigung nicht mehr los und ich stellte mir Großes darunter vor. Die fast 1200 Seiten schreckten mich kein bisschen ab, eher haben sie mein Interesse noch gesteigert. Ich bin sehr froh über mein B(a)uchgefühl, das mich mal wieder sicher zu einem absoluten Highlight geführt hat.
Eigentlich schreibt Amalie Skram eine fürchterlich tragische und traurige Geschichte und das Bewegendste ist ja noch, dass diese niederschmetternden Ereignisse zum Großteil durch ihre eigene Biografie beeinflusst wurden, in einigen Fällen wurden Personen eigentlich nur andere Namen gegeben. Ihre weiblichen Hauptfiguren scheinen sich aus den vielseitigen Facetten der Autorin zusammenzusetzen. Das wird einer der Gründe sein, warum die Charaktere so echt sind, warum die Handlung, die einen Sog ähnlich einer der alten „Seifenopern“ mit echten Charakterdarstellern entwickelt (ihr wisst, welche ich meine). Es wird an keiner Stelle zu hoch gestapelt oder überdramatisiert, man fühlt sich ganz in der Realität.
Der besondere Schreibstil Amalie Skrams ließ mich als Leserin recht unbeteiligt, ich blieb Beobachterin. Das ist absolut nicht negativ gemeint, ich habe mich sehr mit den Figuren vertraut gefühlt, sie werden in all ihrer Menschlichkeit dargestellt, ihre Sehnsüchte, Träume, ihr Glück. Doch ohne die nüchterne Art wäre es vielleicht zu viel Tragik, durch die von der Autorin erschaffene Distanz war mir nicht nach Weinen zumute und niedergeschlagen war ich keineswegs, den letzten und umfangreichsten Band habe ich in 3 Tagen atemlos weggelesen und mich großartig unterhalten gefühlt.
1200 Seiten norwegische Literatur aus dem vorletzten Jahrhundert, ja gut, das kann man mal lesen, aber muss man? Und kann das Lesefreude bedeuten? Ja und Ja! Aus mehreren Gründen.
Es lässt sich einfach so gut lesen. Die Geschichte ist spannend und abwechslungsreich, die Figuren werden hautnah beschrieben, alles ist detailreich ohne ausschweifend zu werden. Ich kann nicht eine Länge im Text beklagen, nicht einen Schwachpunkt, keine Phase, die mich nicht so gepackt hätte. Die Vielseitigkeit erreicht Amalie Skram, indem sie im Laufe der vier Bücher immer wieder auf Schlüsselszenen im Leben dieser oder jener Person zu sprechen kommt. Da aber zumeist mehrere Personen beteiligt sind, erfahren wir zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Rückblenden andere Sichtweisen. Vater und Sohn, Mutter und Tochter. Mann und Frau. Das reflektierte Erleben derselben Situation ist eine der größten Stärken in meinen Augen. Es gibt eben nicht die eine Sicht auf die Dinge, es gibt Ursachen, Gründe für alles, was den Leuten vom Hellemyr widerfährt. Der feste Wusch und Wille, immer das Richtige zu tun, ehrlich und gottesfürchtig zu sein, ist manchmal einfach nicht genug. Für die Darstellung, wie eins vom anderen abhängt und sich dem Einfluss der ProtagonistInnen entzieht hat sich die Autorin viel Zeit genommen.
Was für mich persönlich maßgeblich zur Abwechslung beim Lesen einerseits, zur Authentizität andererseits beigetragen hat, ist der von den Übersetzerinnen gemeinschaftlich entworfene Phantasiedialekt, der dem norddeutschen Platt sehr nahekommt. Die Dialoge klingen echter, der Zeit angepasster. Gleichzeitig werden einem die Standes- und Bildungsunterschiede bewusster, denn Menschen höherer Klassen sprechen (in der Übersetzung) Hochdeutsch. Und nicht zuletzt - und hier möchte ich eine meiner Lieblingsstellen zitieren - übermittelt dieser auch für mich als Hessin sehr gut lesbare Dialekt einen bissigen Humor.
"Dreißich Jahre hab ek jetz aufm Buckel, aber noch nie is mir n Kaptän untergekommen, der mit lodandem Feuer auf die Mannschaft losgeht."
"Da is das widerspenstiche Wetter dran schuld", antwortete der Zweite Steuermann. "Bei Gegenwind springt der Kaptän schnell ausm Anzuch. Auf der letzten Fahrt wars genauso." "Eh ek hier nochmal mitfahr, heuer ek lieber auf ner Sklavengaleere an", murmelte der Rudergänger. (Zwei Freunde, S. 54)
Dass jeder Band für sich übersetzt wurde, fällt kaum auf. Es kann auch innerhalb der Entstehungszeit leichte Änderungen im Tonfall der Autorin gegeben haben, zumal der Dialekt sich auch von Generation zu Generation leicht verändern mag. Die Aufteilung auf verschiedene Übersetzerinnen ist bei diesem Umfang sehr gut gelöst.
Aus heutiger Sicht zeichnet Amalie Skram ein Sittenbild der damaligen Zeit. Sie selbst war im Laufe ihres Lebens mehrfach nach Zusammenbrüchen in stationärer psychiatrischer Behandlung, ließ sich von ihrem ersten Ehemann scheiden. Sie setzte sich schon damals für Frauenrechte ein, die meisten ihrer Werke sind aufklärend und anprangernd, zeigen ungeschönt die weibliche Sicht auf die damaligen Lebensumstände und die sozialen Missstände. Nun darf man nicht glauben, in „Die Leute vom Hellemyr“ kämen Frauen gut weg, sie sind wahrlich keine Sympathieträgerinnen. Die Autorin zeigt vielmehr mit dem Finger auf die Beziehungen, auf Abhängigkeiten, gesellschaftliche Konventionen und Ungleichbehandlung der Geschlechter an vielen, vielen Stellen. Sie lässt in diesem Gesellschaftspanorama die Frauen zu Wort kommen und beleuchtet, welchen Einfluss Frauen überhaupt auf die Gestaltung ihrer Zukunft hatten.
Es sollte eigentlich noch ein fünfter Band folgen, doch dazu kam es nicht mehr. In meinen Augen ist die Geschichte, so wie sie ist, ganz und gar perfekt, es bleibt nichts offen, nichts ist zu viel. Mein Lieblingsband ist tatsächlich der letzte Teil, in dem man schon Einiges mit den Leuten vom Hellemyr durchgemacht hat, in dem Vieles zu Ende geht und Manches neu beginnt. Diese Buchreihe kann sich damit rühmen, alle Erwartungen übertroffen zu haben. Bei vier Teilen, zwischen deren Veröffentlichung teils Jahre, eine gescheiterte Ehe und ein Nervenzusammenbruch lagen, wäre ein Abflauen der Spannung oder ein Qualitätsunterschied zu befürchten, doch das Niveau, die Spannung und das Tempo bleibt. Durch die herausragende Neuübersetzung erscheinen die Bücher sprachlich zeitlos und werden mir allezeit als unvergleichlich in Erinnerung bleiben.
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