Zum Titel
Der Roman „Möge der Tigris um dich weinen“ von Emilienne Malfatto wurde 2020 unter dem Originaltitel „Que sure toi se lamente le Tigre“ veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung von Astrid Bührle-Gallet erschien 2023 im Orlanda Verlag. Das kartonierte Taschenbuch umfasst 91 Seiten.
Die Fotos auf Cover und Rückseite sind von der Autorin, die auch als Fotografin und Journalistin tätig ist.
Zum Inhalt
Eine junge Frau wird nach einer unbedachten Liebesnacht schwanger. Mohammed und sie wollten heiraten, dann wäre sie eine ehrbare Frau gewesen, doch er stirbt bei einem Bombenangriff. Im Irak besagt der Ehrenkodex, dass eine junge, unverheiratete Frau ihr Leben verwirkt hat, sie ist eine Schande. Ihr Vater lebt nicht mehr, somit fällt die Verantwortung für die Familie dem ältesten Bruder zu. Er entscheidet über ihr Leben und das des ungeborenen Kindes.
Rezension
Ich bin ganz gefangen und tief beeindruckt von der Erzählweise Emilienne Malfattos. Ich bin nicht sicher, ob man dieses unglaublich gute Romandebüt überhaupt als Roman bezeichnen kann, es ist ein Familienporträt, in dem jedes Familienmitglied als Ich-ErzählerIn die Situation beschreibt. Die Handlung spielt sich innerhalb weniger Tage ab und steuert unaufhaltsam auf den Abend zu, an dem der älteste Bruder nach Hause zurückkehrt.
Man erfährt als LeserIn innerhalb weniger Sätze unglaublich viel über jede einzelne Person und ihre Vergangenheit, was die Rolle im Haushalt betrifft, die Rolle in der Gesellschaft, sowie die persönliche Einstellung zur Schwangerschaft. Es sind die Sichtweisen der Brüder, der kleinen Schwester, der ebenfalls schwangeren Schwägerin und der Mutter. Hauptsächlich erzählt die namenlose Hauptfigur selbst von ihren widersprüchlichen Gefühlen, ihrer Trauer und von ihrem Wissen über den baldigen Tod, den ihr Bruder Amir ihr bringen wird. Dieses emotionale Auf und Ab, die traditionellen Zwänge und die Darstellung der Beziehungen innerhalb der Familie sind sehr eindringlich beschrieben und machen das System aus Regeln, Abhängigkeit und Verantwortung sehr erlebbar und nachvollziehbar, das habe ich in dieser Form so noch nie gelesen. Wir alle haben schon in den Medien von sogenannten Ehrenmorden gehört und ein Urteil darüber ist schnell gebildet. Unmenschlich finden wir es, doch die Gesichter hinter diesen Tragödien bleiben blass, die der Opfer und die der Täter. Die Komplexität der Traditionen zu erfassen ist kaum möglich.
Besser hätte man diese Geschichte nicht erzählen können, der Stil ist unglaublich, die Sprache poetisch und melodisch Die Autorin hat die Fähigkeit, auf wenigen Seiten so Vieles zu sagen, sogar den Tigris lässt sie zu Wort kommen, den Fluss, der seit ewigen Zeiten so vieles hört und sieht, der die Geschichte des Krieges ebenso kennt wie die der unglücklichen Frauen des ländlichen Irak. Nein, es kann nicht nur leichte Bücher geben. Literatur ist dazu da, Missstände aufzuzeigen und den Horizont zu erweitern, unbekannte Sichtweisen und Perspektiven darzustellen. Dennoch ist diese Geschichte in meinen Augen nicht hoffnungslos, sie deprimiert nicht. Im Gegenteil zeigt sie, wie jedes Familienmitglied den Ausschlag geben kann, um das Schicksal zu ändern.
Nein, es ist kein leichtes Buch, dennoch ein schönes Buch, tieftraurig und melancholisch und von einer solchen Intensität, dass es mich noch lange begleiten wird.
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