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Mondän – Skandalös – Wiederentdeckt

Autorenbild: Julia MoldenhauerJulia Moldenhauer


Zum Titel

 

Der Roman „Chérie“ von Sidonie-Gabrielle Claudine Colette wurde 1920 erstmals unter selbigem Titel auf französisch veröffentlicht und 1927 ins Deutsche übersetzt. Die vorliegende Ausgabe erschien 2024 im Input-Verlag als 30. Band in der Reihe „Perlen der Literatur“ und wurde von Ulrike Lemke neu übersetzt. Das Buch umfasst mit Vorwort und bibliophilen Angaben 188 Seiten, ist ein leinengebundenes Hardcover mit thematisch passendem Vorsatzpapier.

 

 

Zum Inhalt

 

Léa, 49 Jahre alt, unterhält eine amouröse Beziehung zu einem jungen Mann – dem Sohn einer Freundin. Was zieht eine wohlhabende Frau zu einem halb so alten Mann? Und was sucht ein 19-Jähriger in dieser Affäre?

 

 

Rezension

 

Auch heute noch würde man sich fragen, warum sich ein junger Mann nicht eine gleichaltrige Freundin sucht, man würde vielleicht annehmen, dass Luxus ein Grund sein könnte. Liebe? Körperliche Anziehung? 49 Jahre ist ja heute kein Alter mehr, und dennoch… Viele Freunde und Familienangehörige wären womöglich irritiert, würden es jedoch akzeptieren. Vor 100 Jahren sah die Sache allerdings anders aus, es war ein regelrechter Skandal. Colette, wie sich die Autorin kurz nannte, schrieb den einen oder anderen Roman mit gesellschaftlich brisanten Beziehungen, „Chérie“ ist eine ihrer späten Veröffentlichungen und enthält biografische Parallelen.

 Colette lernte ihren ersten Ehemann kennen, als sie 16 war, er war fast doppelt so alt. Sie verfasste ihre ersten Romane und er profitierte von ihrem Erfolg, nutzte sie jedoch nur aus und betrog sie, sodass sie sich bald scheiden ließ. Auch zu Frauen fühlte sie sich hingezogen und ihr werden mehrere Affären nachgesagt, die Anfang des 20. Jahrhunderts einigen Aufruhr verursachten.

Die Varieté-Künstlerin, Journalistin und Autorin schrieb überwiegend in der Ich-Perspektive und überwiegend autobiografisch, so skandalös ihre Bücher waren, ihre Art zu leben – und zu lieben – war es nicht minder. Und so erschien „Chérie“ in zeitlichem Zusammenhang mit der Liebesbeziehung zu ihrem Stiefsohn, die sie in ihrem Roman aufzuarbeiten und zu analysieren scheint. Es ist also keine Liebesgeschichte, Chérie und Léa haben keine Zukunft miteinander, es scheint ohnehin keine Liebesbeziehung zu sein, vielmehr Abhängigkeit von beiden Seiten. Die fragwürdige Anbetung Chéries zu der mütterlichen Freundin und die Anziehung, die der junge, verwöhnte Schönling auf die alternde Kurtisane ausübt zeigen, dass beide in der Affäre etwas verzweifelt suchen, was sie an den anderen zu binden scheint, eine Perspektive hat die Beziehung jedoch nicht. Sehnsucht und Gefühle durchaus, aber – womöglich durch die Abgeklärtheit und Nüchternheit, in der Colette die Beziehung beschreibt – Liebe konnte ich keine erkennen.

Und eben diese Ehrlichkeit und schonungslose Betrachtung, sowohl der körperlichen Veränderung im Alter als auch der Naivität und Arroganz der Jugend, der Desillusion und des Erkennens, was nicht zusammenpasst, macht die Lektüre so besonders und eindrücklich. Colette wusste, worüber sie schreibt und das Buch mit diesem Gedanken im Hinterkopf zu lesen, lässt einen die Bedeutung von Attraktivität, Jugend und Vitalität in einer körperlichen Beziehung überdenken.

Das Buch ist kurzweilig und trotz, dass die Autorin diesmal auf die Ich-Perspektive verzichtet hat, können wir Leseenden die unterschiedlichen Perspektiven und Empfindungen der wenigen Figuren anhand von Dialogen nachvollziehen. Wir erhalten Einblick in die Welt einer Kurtisane aus den 1920ern, die in der gelangweilten bessergestellten Gesellschaftsschicht verkehrt, über die Oberflächlichkeit von Freundschaften, die eigentlich überspielte Konkurrenz ist und den Neid, mit dem man Äußerlichkeiten und Statussymbole (zu denen auch Affären gehörten) beäugte.

Ein wunderbares Buch, in einer ansprechenden neuen Ausgabe. Dem Stil und auch der neuen Übersetzung ist das Alter natürlich anzumerken, das empfand ich jedoch keineswegs als unangenehm, es beschreibt eine andre Zeit. Bei einer Neuübersetzung hätte ich allerdings auf das N-Wort verzichtet, diesen Eingriff in die Urfassung kann man meiner Meinung nach verantworten.

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