Zum Titel
Der Roman „Der letzte Sessellift“ von John Irving wurde 2022 unter dem Titel “The Last Chairlift“ veröffentlicht. Die deutsche Erstausgabe erschien 2023 im Diogenes Verlag, übersetzt aus dem Amerikanischen von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. Das Buch umfasst 1079 Seiten, ist ein Hardcover mit Schutzumschlag und trägt ein Lesebändchen.
Zum Inhalt
Wie fasst man knapp 1100 Seiten zusammen? In einer Rezension las ich, es ginge in „Der letzte Sessellift“ im Wesentlichen um „Sport und Sex“. Ich scheine ein anderes Buch gelesen zu haben.
Adam Brewster erzählt uns sein Leben, nicht linear und nicht biografisch, sondern anhand von Ereignissen, Anekdoten und Einflüssen aus Geschichte, Politik und Gesellschaft. Sein Leben erstreckt sich – ebenso wie das des Autors – von den 1940ern bis heute. Wenn ich es in 2 Worten beschreiben sollte, geht es um Familie und Toleranz. Allerdings geht es auch um Lawinen, Cross-Dressing, Waffen, Schlafarrangements, Suizid, Pantomime, Religion, einen Blitzschlag, Liebeskummer, Krieg, Hoffnung, Skifahren, ein Hotel, Schreiben, Geister und noch sehr viel mehr.
Rezension
Es muss über 15 Jahre her sein, dass ich meinen letzten Irving las. Ich muss zugeben, es war nach „Das Hotel New Hampshire“ und „Eine Mittelgewichtsehe“ nicht so, dass ich von ihm hätte jedes Buch lesen wollen, seine Romane waren für mich ungewöhnlich, irritierend und ich habe damals Literatur bevorzugt, bei der ich wusste, was mich erwartet. Und so erging es mir auch diesmal wieder – nichts bereitet einen auf ein Buch von John Irving vor.
Es gibt so Bücher, viele davon sind Klassiker, die möchte ich lesen, um mitreden zu können, um mir etwas darunter vorstellen zu können, und so war es auch hier, ich wollte einen Eindruck vom Schreibstil bekommen, vom Inhalt, wollte den Autor für mich nach dieser langen Zeit und anderer Sicht auf zeitgenössische Literatur einordnen können. Und da ich keine Angst vor dicken Büchern habe, wurde es dann einfach gelesen. Sehr schön war bei diesem Umfang, dass ich es nicht allein gelesen habe, sondern im Rahmen einer Leserunde über einen Zeitraum von 6 Wochen, was ungemein motiviert, wenn man bei einem Durchhänger von den anderen LeserInnen Spannung im nächsten Abschnitt versprochen bekam. Soweit ich es überblicken konnte, war die Gruppe, bestehend aus 22 Personen, positiv von der Lektüre eingenommen, allerdings habe ich im Vorfeld auch schon von Abbrüchen gehört.
Nun aber der Reihe nach:
Ich habe direkt einen guten Einstieg in das Buch gefunden. Denen, die bisher noch nichts von John Irving gelesen haben sei gesagt, dass er sprachlich ausgefeilt schreibt, aber dennoch leichtfüßig und flüssig lesbar. Einen Großteil des Buches verbringen wir mit Adam, dem Ich-Erzähler, in seiner Kindheit, die die eine oder andere Parallele zu Irvings Biografie aufweist. Trotz der Perspektive habe ich persönlich es nicht so wahrgenommen, dass der alte Adam Brewster mir rückblickend sein Leben erzählt, ich hatte kaum den Eindruck, durch seine Augen zu sehen und ihn eigentlich schlicht als Hauptfigur wahrgenommen, was ich recht angenehm zu lesen fand. Die einseitige Sicht hätte über 1100 Seiten möglicherweise nerven und eine Distanz zum Inhalt schaffen können. Da Adam aber dezent bleibt, spielt er sich nie in den Vordergrund und die Geschichte behielt eine Objektivität, was ich für eine große Kunst halte. Zudem bleibt er für mich kindlich, naiv. Es ging mir mit allen Figuren so, dass ich sie nicht älter werden sah, und wenn im Text des einen oder anderen Alter angemerkt wurde, irritierte mich das, denn nichts wies sonst darauf hin, sie entwickelten sich kaum. Ebenso die Beziehungen zueinander, sie gleichen einem Netz.
Adams Mutter, die einen Hang zum Drama hat (und auch ein Talent), bleibt mir die Figur, die nicht recht Wärme erzeugt. Ich unterstelle Irving allerdings, dass dies nicht mangels seiner Schriftstellerischen Fähigkeiten zustande kam, sondern beabsichtigt ist und möglicherweise an der Beziehung zu seiner eigenen Mutter lag, schließlich durchblickt man andere Menschen immer auch nur zu einem gewissen Teil.
Was prägt einen Menschen? Das scheint mir eines der Kernthemen zu sein. Irving kommt mehrfach darauf zu sprechen – indem er seine Charaktere unterschiedliche Haltungen einnehmen lässt – welche Vorurteile in der Gesellschaft gegenüber non-binären und homosexuellen Paaren gegenüber herrschen, vor allem, wenn es um Kinder geht. Was geben wir einem Kind durch unser Verhalten mit, wenn wir es aufziehen? Und da ist der Autor in seinem Element, wenn es um Beziehungen geht, um das Intime und wertvolle Zwischenmenschliche.
Irving zeigt innerhalb weniger Seiten, wofür er bekannt ist – Dinge beim Namen zu nennen und sein Faible für Außenseiter. Für ihn gehört alles zusammen und dazu, nichts ist „unnormal“ sondern lediglich eine Eigenart. Die Figuren sind allesamt körperlich auffällig, leben ihre Sexualität in den wenigsten Fällen heteronormativ aus, haben ungewöhnliche Kommunikationsarten oder seltsame Verhaltensweisen. Bei Irving überschneidet sich alles und das führt im Verlauf der Geschichte zu einigen Episoden, an denen wir, ähnlich wie Haltestellen, mit Adam aussteigen und sie uns ansehen. Einige grandiose Situationen spielen sich da ab, absurde, lustige, nachdenkliche, erschütternde. Mal auch verstörend und herausfordernd, das kann ich nicht verschweigen, das Buch bietet von allem etwas. Ja, man hätte einiges weglassen können und das Buch wäre wohl weniger anstößig gewesen, teils sogar provokativ. Doch dafür, etwas auszulassen, woran jemand Anstoß nehmen könnte, ist John Irving eher nicht bekannt. Ein Buch dieses Kalibers hat Längen, sagen wir es wie es ist, und das ist einer der Gründe, warum ich nicht finde, es müsse jeder gelesen haben. Es ist kein Must-read. Die Lebenszeit muss man eben erstmal haben, Irving lesen muss man wollen. Man wird dafür belohnt, aber ein bisschen kämpfen muss man auch. Ganze Passagen hätte er sich meinetwegen sparen können, die ich quergelesen habe, Seiten und Seiten voller Drehbuchauszüge, zu denen ich keinen Zugang fand. Aber es ist ja nicht mein Buch, der Autor wollte es so und hat sich zweifelsohne etwas dabei gedacht, aber ich kann nicht behaupten, dass ich es atemlos verschlungen habe.
Bei vielen Dingen habe ich mich gefragt, was es zu bedeuten hat, warum er Figuren genau so entworfen hat, warum er sich an manchen realen Persönlichkeiten so aufgehalten hat (SchauspielerInnen, ausgesuchte Vertreter der katholischen Kirche, Präsidenten, SportlerInnen) und gehe einfach davon aus, dass sie für Irving eine Bedeutung hatten, dass sie in seinem Umfeld Auswirkungen erzeugt haben. Generell kann man eine ganze Menge in einzelne Passagen hineininterpretieren. Wenn man möchte. Wie autobiografisch dieses Werk ist, bleibt unklar.
Und so ist es mit mir und „Der letzte Sessellift“ letztendlich so: Ich habe unglaublichen Respekt vor John Irving, der schon immer umfassende Werke geschrieben hat und die Fähigkeit besitzt, Geschichten – Leben – im wahrsten Sinne des Wortes von Anfang bis Ende zu erzählen, mit einer großen Liebe und Verständnis für Außenseiter aller Art.
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