Zum Titel
Der Roman „Straumēni“ von Edvarts Virza wurde 1933 erstmals in veröffentlicht. Im Jahr 2020 erschien es, von Berthold Forssman erstmals vom Lettischen ins Deutsche übersetzt, im Guggolz Verlag. Das Buch umfasst 333 Seiten und trägt ein Lesebändchen.
Das Buch habe ich mir auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2021 gekauft, so lange hat es geduldig auf mich gewartet.
Zum Inhalt Wir werden vom Erzähler auf einen Ausflug aufs Land mitgenommen, wir sind auf dem Weg, der nach Straumēni führt. Der Untertitel (Ein altes Zemgaler Gehöft) beschreibt die "Hauptfigur" dieses Romans, keine Person sondern einen Ort. Hier sind wir Frühling, Sommer, Herbst und Winter eines nicht genau benannten Jahres - vermutlich Mitte des 19. Jahrhunderts – stille Beobachter.
Rezension Von den ersten Seiten an – einer Art Einleitung - nahm mich Edvarts Virzas Art zu erzählen mit. Seine vertrauliche, direkte Ansprache machte mich von einer Leserin zur Mitreisenden und dieses Empfinden blieb bis zur letzten Seite. Was bin ich sonst empfindlich, wenn mit Adjektiven üppig ausgeschmückt wird und bei verspielten Vergleichen bin ich meist ganz raus. Ich habe nicht wenige Bücher aufgrund dieser Vergehen abgebrochen oder eine sehr subjektive Rezension geschrieben. Und hier? Seitenlang Wetterphänomene und Botanik. Poetische Parabeln und metaphorische Äquivalenzen. Und das war vielleicht schön! Ach wie gern war ich überall dabei. Und wie alles geduftet und gerauscht hat und die Sonne und der Regen... Wie hat es der lettische Autor mit seiner unaufgeregten Geschichte über vier Jahreszeiten in der Landwirtschaft des 19. Jahrhunderts denn bloß geschafft, dass ich statt genervt zu sein tatsächlich ein warmes, sehnsüchtiges, wohliges Gefühl beim Lesen hatte? Weil er es beim Schreiben vermutlich auch hatte. Edvarts Virza ist in einer Großfamilie aufgewachsen. Lettland gehörte bis 1918 dem russischen Zarenreich an, erst nach Ersten Weltkrieg wurde es ein unabhängiger Staat (später das ganze so ähnlich nochmal von vorne). Viele der alten Höfe waren verlassen oder gar zerstört. Straumēni ist eine Mischung aus eigenen Erinnerungen, Recherchen und zu einem großen Teil Geschichten, die Virzas Großeltern wohl aus ihrem Leben erzählten, daher fühlt sich das Buch - auch sprachlich - älter an als 90 Jahre. Wenn es auch ein fiktiver Ort ist, so steckt doch viel Reales im Inhalt. Und möglicherweise hat grade zur Entstehungszeit 1933 Virza die Beständigkeit gefehlt, die Sicherheit, was zu tun ist, der Lauf der Dinge, vorgegeben durch die Jahreszeiten. Die Gemeinschaft von etwa 20 Personen in einem kleinen Kosmos. Ich kann ihn gut verstehen. Dieses Buch verschweigt nicht die schwere Arbeit auf dem Land, die Widrigkeiten durch Wind und Wetter, den Wandel durch technischen Fortschritt, nur ist das alles etwas, was die "Statisten" betrifft, der Hof bleibt davon unberührt. Es ist ein frohes Buch, es klingt versöhnlich und positiv. Virza bringt vieles in Einklang, beispielsweise Gottesfurcht und Christentum wo gleichzeitig an alte lettischen Mythologie geglaubt wird. In Lettland ist dieses Werk, nachdem es zunächst der Zensur des Naziregimes unterlag und anschließend Jahrzehnte unbeachtet blieb, seit geraumer Zeit Schullektüre. Sicher schwere Kost für die dortigen Jugendlichen, denn die Sprache ist gehoben und melodisch bis poetisch. Es ist eine Liebeserklärung. Aber nach meinem Empfinden so angenehm und mit feinem Witz versehen, ich bin restlos begeistert gewesen vom Charme und der Nostalgie. Ich bin glücklich und erholt nach meinem Jahr in Straumēni. Weil die Perspektive für mich stimmte. Weil es echt war. Zum Verlag Einer der ersten drei Plätze des deutschen Verlagspreises ging an den 2014 in Berlin gegründeten Guggolz Verlag. Zur Philosophie von Guggolz gehört, Bücher nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So schöne Geschichten warten in aller Welt und tatsächlich ist das feine Programm voller Bücher und Autoren aus kleinen und großen Ländern dieser Erde. Es sind sorgfältig ausgewählte Herzensangelegenheiten, die da veröffentlicht wurden, Bücher, die bleiben sollen, Autoren, derer man sich erinnern soll.
Die Neuübersetzungen und Neuausgaben sind mit Nachworten versehen und durch Kommentare ergänzt. Die Bücher tragen keinen Schutzumschlag, was mir persönlich sehr gefällt. Die Einbände sind in zarten Tönen gehalten und haben Wiedererkennungswert. Vielfalt an Herkunft bedeutet Vielfalt an Themen und so bietet der Guggolz Verlag einen Beitrag für abwechslungsreiche Buchregale und lässt uns LeserInnen einen Blick abseits von Modethemen und längst vertrauten Orten werfen, auf dass unser kultureller Horizont erweitert werde.
Comments