Zum Titel
Der Roman „Aprikosenzeit, dunkel“ von Corinna Kulenkamp wurde 2023 im Orlanda Verlag veröffentlicht. Das Buch umfasst 339 Seiten und ist ein Klappenbroschur.
Zum Inhalt
Karine weiß nicht recht, in welche Richtung sie sich nach Beendigung ihres Studiums beruflich entwickeln möchte. Zu dieser Orientierungslosigkeit kommt hinzu, dass die Beziehung zu ihrem langjährigen Freund Frederik daran zerbricht, dass er nicht zu ihren deutsch-armenischen Wurzeln steht, sich gegenüber seiner Familie nicht deutlich positioniert und den Alltagsrassismus, den Karine häufig erlebt, kleinredet.
Sie entschließt sich, ins Land ihrer Großmutter zu gehen und dort in einer staatlich unabhängigen Organisation zu arbeiten. Die Bekanntschaften und Freundschaften, die sie dort macht und die Erlebnisse in dem politisch angespannten Land verändern ihre Sicht auf die Welt.
Rezension
Ich weiß über so Vieles so wenig. Möchte man über den deutschen Tellerrand schauen, sich ferne Länder und Kulturen erschließen und verstehen, wie etwas gesellschaftlich und politisch zusammenhängt, ist man mit den Büchern aus dem Orlanda Verlag immer gut beraten. Auch hier wieder wurden mir komplexe Sachverhalte klar, die ich zuvor in den Nachrichten unzureichend erklärt bekam.
Was steckt hinter dem Konflikt zwischen Bergkarabach, Aserbaidschan – und welche Rolle spielt die Türkei?
Neben der fiktiven Handlung, die jedoch auf biografischem Hintergrund beruht, ist man hautnah an den Personen und gerät mit ihnen zwischen die Fronten. Karine wächst, ebenso wie die Autorin Corinna Kulenkamp in Deutschland auf, mit je einem Elternteil aus einer der Welten – Deutschland und Armenien. Unglaublich nah und spürbar ist daher auch die Gefühlswelt der Protagonistin geschildert, das Zerrissene und der Kampf um Zugehörigkeit. Der Rassismus, den Karine in ihrem Alltag erlebt, macht einen wütend und doch erscheint es naheliegend, dass der Autorin möglicherweise alles so selbst passiert ist. Das unmögliche Verhalten der Eltern von Karines Freund und dessen unfassbare Ignoranz und fehlende Empathie sind so dicht und szenisch beschrieben, als wäre man durch die Hauptfigur dabei, man schwankt zwischen Fassungslosigkeit, Traurigkeit und Wut.
Als die junge Frau in das ihr fremde Land reist, dem sie sich zwar durch ihre Wurzeln verbunden fühlt, aber von dem sie nicht viel weiß, reist man als Leser und Leserin mit und muss auch alles erst erfahren und lernen, die Kultur und das menschliche Miteinander, das Schöne, Sehnsuchtsvolle, aber auch die negativen Seiten, die Korruption und die Diskriminierung von Frauen. Als Karine beginnt, sich politisch zu engagieren, entwickelt sich der Roman rasant in eine ganz unvorhergesehene Richtung und es kommt Spannung und Dramatik auf!
Und hinter allem ist es, nicht unerheblich, eine eindrücklich und bewegend geschilderte Familiengeschichte, die in Zeitsprüngen zurückgeht zur Vertreibung und dem Genozid der armenischen Bevölkerung Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese Passagen lesen sich nicht wie ein Roman, vielmehr wie ein Tatsachenbericht, ein Dokument der wahren Ereignisse und das machte viel mit mir beim Lesen.
Was nach der Lektüre dieses Buches und einem nachfolgenden Blick in die aktuellen Schlagzeilen glasklar vor einem liegt ist, dass ein Krieg, ein Konflikt, der massiv von einer oder beiden Seiten ausgehend eskaliert, noch über Generationen das Zusammenleben und Miteinander vergiftet. Auch wenn die Kriegstreiber längst unter der Erde sind und selbst Zeitzeugen rar werden, Frieden ist erst nach abgeschlossener Aufarbeitung möglich. „Aprikosenzeit, dunkel“ macht nachdenklich und zeigt, wie kurz manches doch gedacht ist und wie sehr Menschen sich von Machthabern lenken lassen und das Recht und die Wahrheit für sich beanspruchen. Und wie sehr in jedem Land der Erde Menschen nach ihrer familiären Herkunft kategorisiert und beurteilt werden.
Ein sehr wichtiges Buch und unheimlich gut und spannend geschrieben noch dazu.
Orlanda Verlag eben.
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