Zum Titel
Der Roman „Die Rassistin“ von Jana Scheerer ist im Januar 2024 erschienen. Veröffentlicht wurde das Buch im Verlag Schöffling & Co, es umfasst 219 Seiten und ist ein Hardcover ohne Schutzumschlag.
Zum Inhalt
Als die Nachricht um einen rassistischen Vorfall Nora Rischers E-Mail-Postfach erreicht, sitzt sie grade in einer gynäkologischen Praxis und wartet auf eine künstliche Befruchtung mittels Insemination per Spendersamen. Anfangs noch sensationslüstern interessiert wird ihr schnell klar – es geht um die unseelige Sache in ihrem Seminar. An der sie doch aber keine Schuld trägt. Oder doch? Während der Wartezeit auf dem Behandlungsstuhl hält sie Rat mit sich, jedoch nicht nur mit sich, denn allerhand Stimmen aus ihrem Leben und ihrer Arbeit geben ihren Senf zu diesem, aber auch weiteren „Vorfällen“ aus Rischers naher und ferner Vergangenheit.
Rezension
Eine gewöhnliche Inhaltsangabe vermag vielleicht zu beschreiben, worum es in diesem Buch geht und welche Handlung sich abspielt, aber dies ist nur ein kleiner Teil dessen, was dieses Buch von Jana Scheerer ausmacht. Denn gleich zu Beginn werden wir aufgeklärt – Jana Scherer ist gar nicht die Autorin! Ihr Name steht zwar auf dem Cover, jedoch hat dieses Buch Anton Ansbach verfasst, ein guter bekannter von Jana Scheerer. Da sie Plot und Figuren nicht in den Griff bekam, hatte sie ihm den Entwurf zugesandt. Dieser Ansbach hat seinerseits nun reale Personen und Situationen aus seinem Umfeld als Vorlage genutzt, um den Roman fertigzustellen. Der Roman sei zwar jetzt ganz anders als die erste Idee von Jana Scheerer, dennoch gefiel er ihr. Und da Autorinnen derzeit bevorzugt würden, so Ansbach, sollte ihr Name auf dem Cover stehen. Um noch eine weitere Ebene in das Buch zu bringen, kommt hinzu, dass sowohl die (theoretisch fiktive) Hauptfigur, ihr reales Vorbild, die Lektorin und weitere Testlesende ihre Anmerkungen zum Text abgegeben haben, die mit in das Buch übernommen wurden. Das macht das Buch abwechslungsreich. Untertrieben gesagt.
Ich fing also an mit diesem Roman über einen rassistischen Vorfall, bei dem die Hauptfigur Nora Rischer auf die Formulierung „betreffende Situation“ besteht, der so passiert ist oder hätte mit Sicherheit passiert sein können. Bis es allerdings dazu kommt, überhaupt zu erfahren, WAS zur Hölle denn nun passiert ist, hatte ich schon mehrfach Tränen gelacht. Die Art, wie wer auch immer nun das Buch verfasst hat die Geschichte aufbaut, ist einfach großartig.
Wir lernen also Nora kennen, in einer absurden Situation beim Gynäkologen im Zwiegespräch mit sich selbst, nein, wenn es ja nur das wäre, doch immer mehr Figuren kommen hinzu, sind zwar in ihrem Kopf, das alles spielt sich ja nur in ihrem Kopf ab, und doch ist es, als säße sie angeklagt vor einem Tribunal. Sie versucht, sich zu rechtfertigen, zu erklären, wehrt sich gegen Vorwürfe zu Situationen die mal wenige Tage, mal Jahrzehnte zurückliegen. Sie windet sich bei jeder Erinnerung, oh nein, nicht DAS auch noch. Ist sie etwa eine Rassistin? Nein, ganz sicher nicht, aber hätte sie nicht doch damals…
Rischer reflektiert sich anhand der selbst herbeigeführten Außenperspektive bis zum Knoten in ihren (und meinen) Synapsen und nebenbei rufen Radio und Kollegen an, in einer Tour E-Mails. Sie muss zu einer Sitzung, wo der Fall aufgearbeitet wird, doch das schafft sie nie im Leben, alles ist an diesem Tag gegen sie. Während sie ein Entschuldigungsschreiben mehrfach überarbeitet, überschlagen sich die Ereignisse.
„Die Rassistin“ ist absolut rasant geschrieben, es geht um Rischers Karriere, alles spitzt sich mehr und mehr zu. Aber im Kern geht es um etwas ganz anderes, nämlich um ihr Wissen, ob sie einen Fehler gemacht hat, sie will vor sich selbst Gewissheit. Alle diese Stimmen sind ihr Gewissen und doch auch Menschen außerhalb, reale Menschen, die ihr in ihrem Alltag begegnen. Die jetzt mit dem Finger auf sie zeigen, obwohl sie selbst durch klischeehaftes, unrühmliches Verhalten auf der einen oder anderen Seite auffallen. Im Buch kommen die Betroffenen nicht zu Wort, aber haufenweise Leute, für die es um alles andere geht, nur nicht um Verbesserung des Umgangs miteinander. Da lösen sich die - ismen gerne mal ab und es stellt sich die Frage, welche Diskriminierung schwerer wirkt. Die Literaturwissenschaft und Pädagogik werden nebenbei durch den schwarzen Humor bis an Äußerste übertrieben, genau in Worte gefasst und die Autorin ist mir immer einen kleinen Schritt voraus, während ich lese. Klappe ich das Buch jedoch zu, kommen die Gedanken, ich versuche, die Situation einzuordnen.
Aber Nora Rischer, und das ist einer der wichtigsten Aspekte des Buches für mich gewesen, widerspricht nicht gerne. Das tun die Stimmen des imaginären Tribunals umso lieber, permanent wird diskutiert und gestritten, gepiesakt und gefrotzelt. Und dazu noch die Anmerkungen der Testleserinnen und Testleser. Ist Rischers Fehler, nicht einzugreifen? Keine Position zu beziehen? Ist das auch Teil rassistischen Verhaltens? Im Roman legen alle realen und eingebildeten Figuren hauptsächlich das Verhalten anderer auf die Goldwaage. Wenn man allerdings Teil des Problems ist, kann man dies jedoch nicht anerkennen, um Konsequenzen zu ziehen.
„Die Rassistin“ ist, von der ersten bis zur letzten Seiten ein großartiges Buch. Die verschiedenen Ebenen, die den Lesenden in schneller Abfolge präsentiert werden, halten das Tempo durch, auf der anspruchsvolle Humor bleibt auf einem hohen Level. Und immer dabei, die Ernsthaftigkeit des Themas in den kleinen Zwischentönen. Nora Rischer ist eine wunderbare Hauptfigur mit ihrer zunehmenden Unsicherheit und ihrer Widersprüchlichkeit, die durch die inneren Gespräche zum Vorschein kommen. Es fällt leicht, sich im Großen und Ganzen mit ihr zu identifizieren.
Das Ende ist unvorhersehbar für mich gewesen, letztendlich schlüssig, so wie alles in dieser Geschichte, so abstrus es sich auch abspielt, logisch und schlüssig und passend war und ein rundes Bild abgibt. Ich bekomme schließlich die Antwort auf die Fragen, was eigentlich genau passiert ist und, ob Rischer nun eine Rassistin ist. Ich bekomme nicht mehr und nicht weniger als das.
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